Ein universaler Denker

"Die Entwicklung des Menschen wird von derjenigen Umwelt optimal gefördert, die eine Mannigfaltigkeit wohldosierter Reize gewährleistet. Ungeachtet der Frage, ob diese Reizwelt von physischen oder sozialen Verhältnissen und Faktoren aufgebaut ist - die Vielgestaltigkeit der Umwelt ist Lebensbedingung."

Mit diesem Zitat von Hugo Kükelhaus lässt sich noch am ehesten sein vielschichtiges Werk zu einem Kerngedanken verdichten. Es ging ihm in seinen Arbeiten immer wieder darum, die Tätigkeit der Sinne als Teil unseres menschlichen Daseins erfahrbar werden zu lassen und ihre Wirkung in der Beziehung sowohl zu uns selbst als auch zur menschlichen, natürlichen und dinglichen Umwelt bewußt zu machen.

Vor diesem Hintergrund hat Hugo Kükelhaus nicht nur auf zentrale Probleme unserer Zeit aufmerksam gemacht, sondern suchte immer auch Wege zu ihrer Überwindung. Gleichzeitig war er in vielfältigen Bereichen gestalterisch und künstlerisch tätig.

Foto von Hugo Kükelhaus am Schreibtisch

"Was uns erschöpft, ist die Nichtinanspruchnahme der Möglichkeiten unserer Organe und unserer Sinne, ist ihre Ausschaltung, Unterdrückung ... Was aufbaut, ist Entfaltung. Entfaltung durch die Auseinandersetzung mit einer mich im Ganzen herausfordernden Welt."
(Hugo Kükelhaus)

Hugo Kükelhaus war ein universaler Denker, der auf zentrale Probleme unserer Zeit aufmerksam gemacht hat, aber auch Wege zu ihrer Überwindung wies. Er sah den Menschen der modernen, technischen Zivilisation gegenüber seinen leiblichen und seelischen Kräften verarmen und aus dem Lot geraten. Ursächlich hierfür erkannte er ein Wertesystem, das den Intellekt aus der Ganzheit der menschlichen Fähigkeiten einseitig heraushebt, sowie eine Technik und Umweltgestaltung, die auf eine Entlastung des Körpers und der Sinne statt auf deren Herausforderung angelegt ist.

Eine immer eintöniger werdende Umwelt, die den Sinnen nichts zu 'tun' übrig lässt und den grundlegenden körperlichen Erfahrungs- und Entwicklungsmöglichkeiten immer weniger (Spiel)Raum gibt - Kükelhaus spricht geradezu von 'Lebensentzug' - korrespondierte in seinen Augen mit einer künstlichen Reizüberflutung, die durch die Überforderung bestimmter Sinne wie Sehen und Hören zum weiteren Abbau einer differenzierten Wahrnehmungsfähigkeit beiträgt. Unermüdlich zeigte er die verheerenden Folgen für das menschliche Verhalten in allen Bezügen auf - zu sich selbst, zu den Mitmenschen, zu Natur und Technik.

Die Wichtigkeit vielfältiger sinnlicher Erfahrungen - von Anfang an - unterstrich er bereits Ende der 30er Jahre durch die Entwicklung des Spielzeugs "Allbedeut", Holzspielzeuge zur Förderung der Sinne in den ersten Lebensjahren.

Buchcover Organismus und Technik - Hugo Kükelhaus

Seine kulturkritischen und humanökologischen Erkenntnisse und Anliegen verbreitete Hugo Kükelhaus über viele Jahre hinweg durch eine intensive Vortrags- und Lehrtätigkeit sowie durch zahlreiche Schriften und Vorträge. Im Jahre 1934 veröffentlichte er sein erstes großes Werk Urzahl und Gebärde, dem viele andere folgten, u. a. Werde Tischler (1936), Das Wort des Johannes (1953), Organismus und Technik (1971), Unmenschliche Architektur (1973) und Entfaltung der Sinne (mit Rudolf zur Lippe, 1982).

Lange Zeit stand Kükelhaus als eine Art Rufer in der Wüste da, wenn er vortrug und schrieb, dass es auf das Sehen dessen, was vor Augen liegt, ankomme, auf das "geringe Tun" der menschlichen Sinnes- und Wahrnehmungsorgane, auf deren Übung durch Inanspruchnahme und Herausforderung: "Wir müssen es tun. Erfahren hat eben mit fahren zu tun. Hier liegt die Hürde. Wir sind seit Jahrhunderten darin geübt, die Erfahrung durch die Kenntnis zu ersetzen. Und leben in einer Ersatzwelt!"

Foto von Hugo Kükelhaus während eines Vortrages 1984

Erst mit der Entwicklung des Erfahrungsfeldes zur Entfaltung der Sinne gelang es Kükelhaus, einem breiten Publikum sein Anliegen nahe zu bringen. Als Wanderausstellung wurde das Erfahrungsfeld seit der Mitte der 70er Jahre an zahlreichen Orten im In- und Ausland gezeigt. Im aktiven Umgang mit den ca. 40 Experimentier- und Spielstationen wird den Menschen die Möglichkeit geboten, die Gesetzlichkeiten der äußeren Natur (wie z.B. Schwingung, Schwerkraft, Polarität, Farbe usw.) in ihren gegenseitigen Wirkzusammenhängen mit den physiologischen Gesetzlichkeiten ihrer inneren Natur, sprich der Sinnesvorgänge und Körperbewegungen, vegetativ unmittelbar zu erfahren. Die - oft schon verkümmerte - Fähigkeit zur Sinneserfahrung wird im Erfahrungsfeld wieder angeregt oder erweitert, so dass man neu erleben kann, " ... wie das Auge sieht - das Ohr hört - die Nase riecht - die Haut fühlt - die Finger tasten - der Fuß (ver)steht - die Hand (be)greift das Gehirn denkt - die Lunge atmet - das Blut pulst - der Körper schwingt - ... ."

Das Erfahrungsfeld war für Kükelhaus aber nur ein methodischer Ansatz, sensibilisierend, bewusst machend und ausgleichend auf die von ihm aufgezeigten Defizite zu wirken. Und solange es nicht zu einer grundsätzlichen Umorientierung und Umgestaltung unserer Welt kommt, wird dieses Erfahrungsfeld - und das, was in Anlehnung daran vielerorts neu aufgebaut wird - seine Aktualität und Notwendigkeit nicht einbüßen.

Zwei Kinder auf einem Barfussweg... wie der Fuß (ver)steht und fühlt ...

Die eher späte Rezeption der Gedanken von Hugo Kükelhaus im wissenschaftlichen Bereich hängt sicher mit den Schwierigkeiten zusammen, die sein integraler, zwischen Natur- und Geisteswissenschaften vermittelnder Denkansatz vielfach bereitete. Seitdem aber – insbesondere im Hinblick auf Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Lernstörungen bei Kindern – die negativen Folgen einer jahrzehntelangen Geringschätzung vielfältigster körperlicher und sinnlicher Erfahrungsmöglichkeiten immer deutlicher werden, richtet sich heute – in besonderem Maße vermittelt durch das Erfahrungsfeld – die Aufmerksamkeit verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen auf Hugo Kükelhaus, der als Wegbereiter eines ganzheitlichen Ansatzes entdeckt wird, der die Leib- und Sinneserfahrungen im Bildungsprozess ernst nimmt.

"Es ist in den letzten Jahren immer deutlicher geworden, dass Kükelhaus mit seinen Gedanken zu Fragen der Pädagogik seiner Zeit weit voraus war und schon sehr früh in Bereiche vorgestoßen ist, die erst im letzten Jahrzehnt von der Pädagogik zunehmend in ihrer Bedeutung erkannt und thematisiert worden sind. Insbesondere ist hiermit die Wiederentdeckung des Körpers und der Sinne in ihrer Bedeutung für die (Heil-)Pädagogik gemeint ... Kükelhaus setzte sich ein für eine Rehabilitation der Sinne im Unterricht, für eine ganzheitliche Bildung des Menschen ..., für ein auf Wahrnehmung, Aktivität, Erfahrung, Spiel und Freude beruhendes Lernen, in das der situative und architektonische Kontext mit einbezogen sind,"

so der Heilpädagoge Walter Dreher von der Universität Köln.

Buchcover - In den Ordnungen des Leibes - Markus Dederich

Lebhaft beschäftigte Kükelhaus sich auch mit Fragen des Bauens und Wohnens. Im Bereich der Architektur hat er seit Anfang der 70er Jahre die sich immer lebensfeindlicher gebärdenden Tendenzen der damaligen Architektur wesentlich kritisiert und die Grundlinien eines organlogischen Bauens entwickelt, einer an den Bedürfnissen der menschlichen Sinne und des menschlichen Organismus orientierten Bauweise. Für Kükelhaus war das menschengerechte, maßvolle Bauen und Gestalten ein lebenslanges erzieherisches Anliegen.

Buchcover - Unmenschliche Architektur 1973

Über die bisher angesprochenen Bereiche hinaus arbeitete Hugo Kükelhaus gestalterisch und künstlerisch in vielfältiger Form: als Entwerfer von Möbeln, als lllustrator (z.B. von handwerklichen Herstellungsverfahren) und Grafiker, als Bildhauer, als Zeichner und Verfasser von Bildgeschichten und Parabeln.

Viele seiner Arbeiten sind architekturgebunden: Farbgestaltung, Farbglasfensterentwürfe, Sgraffitos und Wandmalereien, die er auch selbst ausführte, sowie Bauplastiken. Weiterhin forschte er über Goethe, setzte sich mit grundlegenden Fragen handwerklicher Formgebung auseinander und schrieb philosophische Essays. Einen starken Eindruck von seinem umfassenden gestalterischen Impetus vermitteln seine kalligraphischen, vielfach illustrierten Briefe und Buchmanuskripte sowie auch die Einrichtung seines Wohnhauses in Soest.

Trotz aller Vielfältigkeit standen seine Tätigkeiten immer in Korrespondenz miteinander. Kükelhaus war 'disziplin-los' im besten Sinne des Wortes: Er verschrieb sich keiner Fachrichtung, akzeptierte keine Schranken des Denkens und stellte Verbindungen zwischen den verschiedensten Disziplinen her.

Wandmalerei im Sonderschulheim Rodtegg - Mutterschwein mit säugenden Ferkeln

So reicht die Bandbreite der Rezeption heute von der wissenschaftlichen Auseinandersetzung unterschiedlichster Fachrichtungen mit seinem Werk über die praktische Umsetzung in pädagogischen Einrichtungen und Experimentier-Museen bis hin zu Annäherungen aus anthroposophischer und sogar esoterischer Perspektive.

Weitere Link:

Bildgeschichten vom Träumling

Farbglasfensterentwürfe von Hugo Kükelhaus

Farbige Entwurfszeichnung einer kinetischen Freiplastik

Aufgrund seiner elementaren Lebenslehre, die mystische und östlich geprägte Weisheiten sowie moderne naturwissenschaftliche Kenntnisse auf eine ganz eigenständige Art und Weise integriert, wurde Kükelhaus gelegentlich als "unentdeckter Guru" bezeichnet. Doch ihm selbst waren Anhänger und Bewunderer zeitlebens suspekt. Er wollte nie eine Weltanschauung mit unabänderlichen Wahrheiten verbreiten - viel zu groß war die in seinen grundlegenden Gedanken implizierte Offenheit.

Kükelhaus wollte Menschen unmittelbare Erfahrungen ermöglichen, um sie anzuregen und zu ermutigen, ihre Lebensbereiche so zu gestalten, dass sie sich mit all ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten entfalten können, anstatt sich immer mehr die eigene Lebensgrundlage zu entziehen.

Was Kükelhaus hinterlassen hat: Aufforderungen zum Tun, Methoden statt Meinungen, Anleitungen zur Selbsterfahrung durch Eigentätigkeit - zu einem Leben im vollen Sinne eben. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Grafik von Hugo Kükelhaus

Lebenslauf

1900

Geboren am 24. März in Essen


Vater: Hugo Kükelhaus sen., Schriftsteller, mittelständischer Wirtschaftspolitiker, Mitorganisator der beruflichen Selbstverwaltungskörper des deutschen Handwerks; Mutter: Marie Kükelhaus, geb. Hovestadt; Schwestern Freya und Hiltrud, Brüder Heinz und Hermann: beide Schriftsteller

1919

Abitur


danach Lehr- und Wanderjahre als Bau- und Möbelschreiner

1925

Meisterprüfung im Schreinerhandwerk


Studium in Heidelberg, Münster, Königsberg. Schwerpunkte: Soziologie, Philosophie, Mathematik (Logik), Physiologie

1930

Heirat


mit Emilie, geb. Scharpenack (1898 - 1986) aus Kettwig/Ruhr; Sohn Friedrich, Tochter Barbara verh. Vogel

seit 1930

Innenarchitekt in Bochum (Fa. Dickerhoff)


Beginn freier gestalterischer Arbeit und journalistisch-schriftstellerischer Tätigkeit

1931

Übernahme der Fachzeitschrift Das Tischlergewerk


nach dem Tod des Vaters als Herausgeber und Schriftleiter für diese mit Unterbrechnungen bis 1943 tätig. Von 1948 bis 1956 freier Mitarbeiter der Zeitschrift

1934

Umzug nach Caputh bei Potsdam


seit 1934

Mitarbeiter des Alfred Metzner Verlages, Berlin


als Herausgeber der Reihen Schriften zur deutschen Handwerkskunst (1935ff.) und Die deutsche Warenkunde (1939ff., Informationsdienst über vorbildlich gestaltete handwerkliche und industrielle Gebrauchsgüter) und als Autor: Urzahl und Gebärde (1934) und Werde Tischler (1936). Vorträge, Schulungen, Organisation von Ausstellungen. Zusammenarbeit mit dem "Kunstdienst" und dem "Deutschen Handwerks-Institut" (Berlin)

1939

Herstellung des Spielzeug Allbedeut

(später auch "Greiflinge" genannt)


eines Sortiments von Holzspielzeugen für Kleinstkinder

1939 - 1945

Soldat


zeitweise freigestellt zur handwerklichen Schulung und Rehabilitation körperbehinderter Verwundeter. Mitglied des Widerstandskreises um Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg

1940 - 1941

durch von der Schulenburg Landeshandwerkspfleger von Schlesien in Breslau


1948

Übersiedlung nach Westdeutschland


1949 - 1954

Wohnung in Wamel am Möhnesee


Haus und Grafikwerkstatt Kätelhön

1950 - 1953

Lehrtätigkeit an der Werkschule Münster


Bildgeschichten vom Träumling (1951/1952) und Das Wort des Johannes (1953). Ausbau einer ehemaligen Fachwerkscheune im Soester Bergenthalpark (Das Unbezahlbare Haus)

1954

Umzug nach Soest


seit 1954

ausschließlich freiberufliche Tätigkeit als Schriftsteller (Anthropologie, Kulturkritik, Architektur, Sinnesphysiologie und -therapie, Pädagogik) und bildender Künstler (Zeichnung, Plastik, Glaskunst u.v.m.)


Mitarbeit bei der innenarchitektonischen Ausstattung von zahlreichen Kirchen und öffentlichen Gebäuden, besonders im Ruhrgebiet und im Münsterland; umfangreiche Vortrags- und Seminartätigkeit

1957

künstlerische Gestaltung und Innenausstattung der Ev. Erlöserkirche in Essen

einschließlich der gesamten Farbglasfenster


seit ca. 1960

Intensivierung der theoretisch und experimentell durchgeführten Untersuchungen über die Sinnesprozesse

Entwicklung des naturkundlichen Spielwerkes



1966

Stahlwand im Foyer des Stadttheaters Dortmund

(mit Fritz Kühn)


1967

Beteiligung an der Weltausstellung in Montreal

mit 12 Spiel- und Erfahrungsgeräten des naturkundlichen Spielwerkes sowie an der 2. internationalen Schulausstellung in Dortmund


1973

Prägung des Begriffes "Unmenschliche Architektur"


In der Folge Beratung und künstlerische Mitarbeit im Sinne einer "organgesetzlichen" Architektur beim Bau von Schulen, Kindergärten, Industriebetrieben; u.a. ab 1975 in mehreren Werken der Fa. Schweisfurth (HERTA KG), 1980/1981 beim Schulheim Rodtegg/Luzern für körperbehinderte Kinder (Architekt: Otto Schärli), 1980 bei der Neugestaltung des Schulhofs des Archigymnasium in Soest

1975

Erste Präsentation des Erfahrungsfeldes zur Entfaltung der Sinne

bei der Internationalen Handwerksausstellung EXEMPLA in München


Danach Wanderausstellung des Erfahrungsfeldes in zahlreichen Städten Deutschlands und der Schweiz

1977

Gründung des Arbeitskreises für eine organgesetzliche Lebensgestaltung Organismus und Technik e.V.

in Deutschland und in der Schweiz


1978

Konrad-von-Soest-Preis des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe für sein Lebenswerk


1982

Buchprojekt Entfaltung der Sinne gemeinsam mit Rudolf zur Lippe


1982 - 1984

Planung und Bau Haus Graubner in Herrischried (Südschwarzwald)

mit Wolfram Graubner


1984

gestorben am 5. Oktober

in Herrischried; Grabstätte in Mustin bei Ratzeburg, dem Wohnort seiner Tochter