Zum Erfahrungsfeld zur Entfaltung der Sinne (Hugo Kükelhaus)

DIETER LOTZ

 

Verstehe dich selbst.
Nichts zuviel.
Werde, der du bist.
Sei.
[Griechische Lebensweisheit]

Sinne erfahren und entfalten

Impulse zum 'Erfahrungsfeld' von Hugo Kükelhaus

Befragt nach den eigenen Kindheitserfahrungen mit 'Spielen', antworteten die meisten Studierenden der Heilpädagogik an den Evang. Ausbildungsstätten, Elisabethenstift in Darmstadt im Januar 1996, sie hätten viel draußen gespielt, hätten sich viel bewegt. Im Gegensatz zu ihren Spielen im Freien, beobachteten sie Kinder heute eher vor Monitoren verschiedenster Art. Sie spielten meist drinnen und bewegten sich kaum. Ob diese Analyse repräsentativ ist weiß ich nicht, völlig daneben scheint sie mir nicht.
Ich frage mich selber, wie es um meine so oft propagierte Einheit von Körper, Seele und Geist steht. Theoretisch ist klar, daß eine Einheit gekennzeichnet ist durch die Untrennbarkeit ihrer Teile. Kein Teil einer Einheit kann ohne die jeweils anderen Teile existieren. Die Trennung dient nur dazu, sich selber ein klareres Bild zu verschaffen. Aber befinden sich die "Teile" (Körper, Seele und Geist) auch im Einklang miteinander?
Mein Körper ist längst nicht (mehr?) so aktiv wie mein Geist. Während sich in meinem Kopf sehr viel abspielt, bleibt mein Körper unbewegt. Im Auto, vor dem PC (einem Monitor!), in der Schule beim Unterrichten, beim Essen und bei Gesprächen - die Sitzhaltung dominiert!
Und nun sitze ich gerade vor meinem PC und will über Hugo Kükelhaus schreiben, über sein Erfahrungsfeld... Und ich merke in mir etwas Paradoxes: wie kann ich über etwas schreiben, das man erfahren muß?!

Ergebnis
: Ich schreibe eine Art Werbetext, ein Animationsschreiben, einen Appell, sich dorthin aufzumachen, wo immer dieses Erfahrungsfeld zu entdecken ist, um Sinneserfahrungen zu machen.

Meine Zweifel bleiben noch: wozu eigentlich brauchen wir Menschen-Kinder Sinneserfahrungen? Reden wir uns und unseren Monitor-Kids nicht jenes Unglück ein, das wir vielleicht gar nicht als Unglück empfinden? Der Multimediakonsum findet im Kopf statt: Sehen, Hören, Fühlen und Bewegen sind von ganzkörperlichen Erfahrungen abgetrennt; Synapsenschaltungen in unseren Gehirnen vermitteln Sinneserlebnisse eigener Qualität. Mir fällt auf, daß von Monitoren keine olfaktorischen und gustatorischen Sinnesangebote (riechen und schmecken) ausgehen. Bestimmte Chips muß man im Rechner lassen, Chips ganz anderer Art befriedigen den Geschmackssinn vor dem Monitor...


Wer war Hugo Kükelhaus?

Er lebte von 1900 - 1984, seit 1954 bis zu seinem Tod in Soest [sprich: Sohst]. Obwohl er nach dem Abitur "keinen Beruf haben wollte", wurde er zunächst Tischlermeister. Er studierte Soziologie, Philosophie und Logik und wirkte in verschiedenen Berufsfeldern, z.B. in der Rehabilitation körperbehinderter Verwundeter im 2. Weltkrieg, als Lehrer an der Werkschule in Münster, als Grafiker, Plastiker und Farbglasfenster- und Mosaikbildner. Er verfasste Bücher und Aufsätze und zog bei Vorträgen viele Zuhörer in seinen Bann[1]. Anfang der 60er Jahre konstruierte Kükelhaus 32 Spielgeräte für Schulen der Stadt Dortmund. Dieses "Naturkundliche Spielwerk" sollte Schülern bestimmte Lernprozesse durch körperlichen Spielumgang erfahrbar machen. Ein Teil des Geräteprogramms wurde auf der EXPO 1967 in Montreal vorgeführt. Heute heißt das "Spielwerk" von damals "Erfahrungsfeld zur Entfaltung der Sinne".

Erfahrungsfeld zur Entfaltung der Sinne

So selbstverständlich es auch klingen mag: die menschlichen Sinne sind zwar in der Regel alle funktionsfähig, sie müssen aber ausgebildet, gefördert und evoziert (= herausgerufen) werden. Ansonsten degeneriert der Mensch, d.h. er verkümmerte.
Woher aber wissen wir, was uns an Sinneseindrücken fehlt? So wie jeder die Welt sieht, ist für ihn die Welt. Das was wir wahrnehmen, halten wir für wahr, für wirklich und für exklusiv.
Der ausschlaggebende Anlaß für Wahrnehmungserweiterungen ist das Urbedürfnis des Menschen, sich mit seinem satus quo nicht abfinden zu wollen. Gefühlter Stillstand erinnert an den Tod, daher haben wir lebendige Bewegkräfte in uns, Ansprüche und Erwartungen - und: Ahnungen. Das Wort Ahnung habe ich hier und da bei Kükelhaus gelesen. So z.B. in Urzahl und Gebärde: "Die Ahnung reichte bei den Menschen der frühen Zeit sowohl in weite Zukunftsferne als auch hinab ins dunkle Reich der Mütter. Ihre Erinnerung tastete zurück in den Mutterleib" [S. 39]. Mit der Ahnung korrespondiert auch die "innere Stimme" und das "Gewissen", Phänomene, die jeder Mensch kennt und ihnen manchmal nachspürt und folgt. Von neuen Wegen und von weiteren Wahrnehmungsmöglichkeiten haben wir zunächst bloß eine Ahnung. Diese bringt uns zuallererst in Schwung.
Das Erfahrungsfeld zur Entfaltung der Sinne löst in uns Empfindungen und Erinnerungen aus, die nicht unbedingt rational, sondern auch intuitiv, zu fassen sind. Der Besucher findet heute etwa 40 Stationen vor, die jeweils unterschiedliche physikalische Phänomene darstellen und entsprechend verschiedene Sinneserfahrungen ermöglichen. Der tiefere Sinn der einzelnen Stationen liegt in dem "empirischen" Nachweis, daß eine unbedingte Analogie zwischen äußerer Natur (den physikalischen Erscheinungen) und der inneren Natur (dem menschlichen Organismus) zu erfahren ist.
Ich will im Folgenden exemplarisch einige "Phänomene", wie Kükelhaus sie genannt hat, aus dem Erfahrungsfeld aufgreifen und besprechen. Das hat zwei Gründe:
Einerseits sind die Erfahrungen, die man beim Besuch der Ausstellung machen kann, gebunden an die dort vorzufindenden Geräte. Diese kann man zwar kaufen[2], aber da sie sehr teuer sind, wird das kaum jemand in der gebotenen Fülle bzw. Vollständigkeit (z.B. für seine Einrichtung) tun. Nach meinen Ausstellungsbesuchen stellte ich mir die bekannte Transferfrage: wie kann man die einzelnen Erfahrungen übertragen in die Lebenswelt, in die Welt von Krippe, Kindergarten und Hort?
Andererseits lohnt es sich, den rein funktionalen Gewinn der Erfahrungen auch mit philosophischen Aspekten zu ergänzen. So erhalten die Sinneserlebnisse während dem Besuch der Ausstellung einen Sinnbezug.
Die einzelnen Stationen beziehen sich nicht immer konsequent auf einen einzigen Sinn. Manche Übungen oder Geräte beanspruchen mehrere Sinne, sie wirken ganzheitlich.

Vom Fuß

"Der Fuß versteht."

Im 'Erfahrungsfeld...' erwartet den Besucher eine Art Gehsteig mit verschiedenen reliefartigen Bodenbelägen, wie z.B. Sisal, Klinker, keramisches Material, Naturstein, Ziegel, Holz. Die Oberflächenerfahrung soll möglichst barfüßig gemacht werden.

Wir Menschen-Kinder haben heute kaum noch Bodenkontakt. Strümpfe und Schuhe verhindern unmittelbare Berührungen mit unterschiedlichen Bodenbelägen. Dabei sind die Fußsohlen äußerst sensibel. Man denke nur daran, dort unten gekitzelt zu werden. Die bekannte Fußsohlen-Reflex-Massage wird diagnostisch und therapeutisch eingesetzt.
Vom Kopf zum Fuß ist's ein langer Weg. Die Füße tragen die ganze Last des Körpers. Wir stehen aufrecht, fühlen unsere Standfestigkeit und unsere Erdgebundenheit. Man sagt: Dieser Mensch steht mit beiden Füßen (Beinen) im Leben. Wer den Boden unter seinen Füßen verliert, gerät ins Taumeln, verliert sein Gleichgewicht. Wer "abhebt", entfernt sich von der Wirklichkeit.
Welche Beziehung habe ich zu meinen Füßen? Wie weit sind sie von mir entfernt?
Füße können greifen, Figuren zeichnen (Kreise und Gerade), können berühren und berührt werden. Manche Menschen können mit ihren Füßen z.B. Malen und Schreibmaschine schreiben.
Meine Füße erinnern mich an meine Aufrichtigkeit. Still- und Geradestehen, innehalten und verweilen - dann langsam losgehen. Kükelhaus empfiehlt als Übung extremes Zeitlupentempo. Ich erinnere mich an pantomimische Übungen.
Wie oft steht man auf "unsicherem Boden", nicht nur bei Glatteis! Wie  unterschiedlich beschaffen kann der Boden sein. Dort mag ein Seil liegen, auf dem man barfüßig balanciert. Oder es kann eine Pfütze sein, in die man hineingeht, ohne zu wissen, in was man hineintritt. Tatsächlich gibt es auch gefährlichen Boden: heiß und scharf kann er sein. Barfüßig gehen bedeutet auch: ungeschützt sein und verletzbar.
Vielleicht läßt sich das Barfußgehen ritualisieren: zu einer bestimmten Zeit an einem Tag oder in der Woche und auf unterschiedlichem Boden. Man stelle sich einmal die Frage, welche verschiedenen Bodenbeläge in seiner Wohnung und in der Einrichtung, in der man arbeitet, und im Garten, vorzufinden sind. Man kann Bodenerkundungsgänge unternehmen und sich zusammenhocken und erzählen, welche Fußerlebnisse jeder gemacht hat. Dann kann man weiter überlegen, welcher Boden noch nie barfüßig erkundet worden ist, z.B. bei einem Waldspaziergang ohne Schuhe.
Die Konzentration auf seine Füße wird erhöht, wenn die Augen verbunden sind.
Kükelhaus verweist auf die Erfahrungen im aufrechten menschlichen Gang: Rhythmus, Schwingung (Pendeln) und Polarität (Fallen und Auffangen des Falls) werden zugleich erfahrbar und sichtbar.[3]

Vom Hören[4]

"Nicht das Ohr hört, der Mensch hört."

Im 'Erfahrungsfeld...' erwarten den Besucher mehrere Klangkörper, z.B. Schall-Reflektoren, Gongs, ein Summstein, Holzklang. In einem schallgedämpften und lichtarmen Raum kann man Resonanzlosigkeit erfahren.

Fragt man sich selbst einmal, welcher Sinn einem am wichtigsten ist, nennt man wahrscheinlich das Sehen. Aber auch das Hören taucht im sozialen bzw. erzieherischen Alltag ständig auf. Wenn wir von einem Kind sagen, es könne nicht hören, so meinen wir zwar gehorchen, d.h. einer Bitte oder Aufforderung folgen, wer aber nicht hören kann, kommt über den Hörsinn nicht zur erwünschten Einsicht und zur Verhaltensänderung. Und wer nicht hören will, muß bekanntlich fühlen. Menschen-Kinder, die nicht verstehen, ein-sehen oder be-greifen, müssen entsprechende Konsequenzen leiblich spüren.
Es gibt Menschen, die auffallend gut zuhören können (Rudolf Steiner soll z.B. solch ein Mensch gewesen sein). Zuhören heißt, ganz Ohr sein, ganz beim anderen sein, ohne schon eigene Antworten zu präparieren, ohne ständig vom anderen auf sich zu schließen. Zuhören heißt auch zu verstehen, wie mein Gegenüber meint, was er sagt. Wer nur auf die nackte Nachricht hört, verpaßt wesentliche Botschaften.
Genaues Hinhören erfordert die akustische Selektion momentan irrelevanter Schallquellen. Viele lärmende Schallquellen erschweren die Orientierung, machen unruhig, unkonzentriert.
Kükelhaus schreibt: "Längerer Aufenthalt in einer gänzlich 'schalltoten' Kabine führt zu Gleichgewichtsstörungen, zu Übelkeit, Beklemmung und dem Gefühl des Isoliertseins."[5]
Warum bietet er den Besuchern seiner Stationen eine Erfahrung in einem schallgedämpften  und lichtarmen Raum?
Das Erlebnis in diesem Raum bzw. in dieser Kabine, ist eine extrem polare (einseitige) und gleichzeitig negative Erfahrung. "Man fühlt sich nicht nur von außen verlassen, sondern von sich selbst. Diese Selbstverlassenheit läßt verstummen."[6]
Das Zauberwort heißt Resonanz. Ohne Resonanz, ohne Widerhall, könnte kein Mensch existieren. Der lebensnotwendige Gegenpol ist, wie Kükelhaus sagt, das Echo oder die Ant-wort, - kurz: die Resonanz in all ihren Facetten. Übrigens erwähnt Kükelhaus das Echohören als Therapie bei Kindern, die spastische Leiden haben[7] sowie anderen, die stottern[8].
Um Hören, oder bewußt wieder hören zu lernen, kann die Erfahrung der Resonanzlosigkeit heilsam sein. Wenn man Kindern die Aufgabe gibt, alles daranzusetzen, einmal gar nichts zu hören, werden sie sich sicher sofort die Ohren zuhalten. Aber hört man wirklich nichts, wenn man sich die Ohren zuhält? Vielleicht läßt sich drinnen oder draußen eine Art Hütte oder Kabine bauen, in der man nichts hören darf. Nichts-hören erhöht die Sensibilität des Hörens.[9]
Bevor ich zum ersten Mal vor Jahren ein 'Erfahrungsfeld...' besuchte, kannte ich es nicht: das Summloch. Es hat mich ungemein fasziniert! Neben einer anderen Station (den "Helmholtz'schen Kugeln") ist der Summstein ein Steinblock mit einer rundlichen Aushöhlung. Darin steckt man seinen Kopf und erzeugt einen tiefstmöglichen Summton. Nach kurzer Zeit hört man sein eigenes Echo in Form eines wohltuenden Dröhnens bzw. Vibrierens, das den ganzen Organismus ergreift. Hier macht man die gegenpolige Erfahrung zum Nicht-Hören: die der Resonanz.
Echo- und Summerfahrungen lassen sich auch ohne Summstein machen. Ideen finden sich reichlich. Ich erinnere mich an das Lied: "Drei Chinesen mit dem Kontrabaß...", das sich auch hervorragend summen läßt. Überhaupt finde ich gesummte Lieder sehr wohltuend.

 

Vom Licht und vom Schatten

"Sehen heißt urteilen."

Im 'Erfahrungsfeld...' erhält der Besucher Einblicke in vier Guckkästen mit drei weißen Kugeln und einem Steinkopf. Die Kästen sind unterschiedlich ausgeleuchtet.

"Der Versuch lehrt: Licht ist nicht einfach Helligkeit, sondern Licht ist ein räumlich ausgetragenes Ringen zwischen Licht und Nichtlicht."

 




Und die einen sind im Dunkeln
und die anderen sind im Licht -
doch man sieht nur die im Lichte,
die im Dunkeln sieht man nicht.

[Bert Brecht]

Unsere natürliche Lichtquelle ist die Sonne. Sie leuchtet auch dann, wenn wir Dunkelheit wahrnehmen. Sie knipst nachts nicht etwa ihr Licht aus, sie scheint unentwegt.
Licht- und Dunkelwahrnehmungen gehören zu unseren polaren Seinserfahrungen. Unsere Wirklichkeit ohne erfahrbare Gegensätze wäre unvorstellbar. Wir könnten uns nicht orientieren. Natürliche Gegensätze stehen sich nicht feindlich gegenüber, sondern komplementär (sich notwendig ergänzend). Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Frage, wo wir in unseren privaten und beruflichen Bereichen Gegensätze bewußt wahrnehmen - und konturieren, d.h. umreißen, uns klar machen.
Meine These ist, daß wir dabei sind, Gegensätze zu egalisieren (= ausgleichen) bzw. zu nivellieren (= gleichmachen). Kaufhäuser, Einkaufspassagen - und Lernräume sind oft total hell, total ausgeleuchtet.
Es würde sich vielleicht lohnen, mit Kindern mal auf die Suche zu gehen nach Schatten (als "Schattensucher") in unterschiedlichen Räumen und draußen...
Da wo Licht gebrochen wird, entsteht Schatten. Schatten wiederum lassen ein und dasselbe Objekt in jeweils anderem Lichte erscheinen. Unser Wahrnehmungsempfinden verändert sich, unsere  visuelle Wahrnehmung wird differenzierter.
Wie ist die Beleuchtung in unseren pädagogischen Einrichtungen? Ist's dort total hell? Bestrahlen die Lichtkörper direkt den Raum (wird er voll ausgeleuchtet) oder gibt es indirekte Beleuchtung, gibt es Dimmer? In welchen Lichtverhältnissen leben unsere Kinder?
Manche Kinder haben Angst im Dunkeln, sie wollen Licht beim Einschlafen. Man müßte mal beobachten, ob diese Kinder (tagsüber) nur im Hellen leben. Kennen sie die Erfahrung der Dämmerung, der Schatten? Kennen sie die Faszination unterschiedlicher Helligkeitswahrnehmungen ein und desselben Objektes?

Ich erinnere mich an früher, wo wir abends noch in der Stube saßen und erzählten. Es wurde Abend, es wurde dunkler -ein fließender Wechsel des Lichteinfalls-, und die mir vertrauten Menschen und Gegenstände sahen plötzlich irgendwie anders aus, ich möchte sagen: verklärter.
Durch Differenzierungsbemühungen der Gegensätze, bzw. von erlebter Polarität, wird unsere Wahrnehmung reichhaltiger, wir erfahren Anregungen, die zu neuen Ein-sichten führen können, und wir steigern unsere Entscheidungskompetenz, indem wir nicht nur zwischen schwarz und weiß oder zwischen gut und böse zu urteilen brauchen.
Viele Menschen heute leiden unter sog. Ambivalenzen (= Doppelwertigkeit z.B. einer Sache, woraus Zerrissenheit bzw. Zwiespätigkeit resultiert). Man haßt oft Gegensätze, ohne sich an ihrer Vielfalt zu erfreuen. Hilfreich könnte sein, die Gegensätze wahr-zunehmen, sein zu lassen, und sie in die jeweilige Wirklichkeit zu integrieren.
Interessant ist vielleicht noch, auf den Begriff "Schattenseiten" aufmerksam zu machen. Wir sagen jemandem zurecht: "Du siehst deine Schattenseiten nicht!" Ich habe mich selbst oft gefragt, ob es überhaupt möglich ist, seine eigenen Schattenseiten zu erblicken. Denn sobald ich sie sehe, verschwindet der Schatten, weil man doch im Dunkeln bekanntlich nichts sehen kann. Ich weiß, daß es sie gibt. Und vielleicht kann man sich an sie nur heran-tasten, sie erahnen und den Ausgleich herstellen durch bewußte, innere Lichteinwirkungen?

 

Vom Riechen[10]

Im 'Erfahrungsfeld...' erwartet den Besucher ein Riechbaum mit verschiedenen Duftgefäßen. Diese kann man öffnen und den jeweiligen Duft erraten.

Welchen Stellenwert bekäme das "Riechen" in einer Hierarchie der Sinne? Für Kükelhaus ist der Riechsinn unter allen Sinnesorganen der anfänglichste. "Das Denkhirn ging hervor aus dem Riechhirn".[11] "Unterschiedliche Duftwahrnehmungen verändern die Empfindungslage des Wahrnehmenden"[12], schreibt Kükelhaus. Und in der Tat: Duftwirkungen erfahren wir meist extrem als angenehm oder als abstoßend. Düfte werden von uns kaum präzise bezeichnet, wie kampferartig, moschusartig, blumig, minzig, ätherisch, stechend oder faulig (so nennt Kükelhaus die Primärgerüche), sondern wir bewerten uns auffällige Gerüche. Dabei verküpfen wir aktuelle Erlebnisse mit früheren Erfahrungen. Diese ins Bewußtsein zu heben, wäre die vielleicht reizvolle Aufgabe einer Duftbiographie. Erzählen wir doch bei Gelegenheit einmal von Situationen, die uns an "damals" erinnern. "Frühergeschichten" nannte dies ein befreundeter Lehrer, wenn man vom Plätzchenbacken oder von Teegerüchen oder von Stinkerlebnissen berichtet.
Ich habe viele schwarze Filmröhrchen gesammelt (man bekommt sie in Fotogeschäften). Dort hinein kann man Wattebäusche tun und mit verschiedenen Gerüchen tränken. So läßt sich ein Duftbaum in anderer Gestalt herstellen.
Man riecht sich nicht selbst, erklärt Kükelhaus; ebenso verhält es sich mit unserer Stimme, die wir nicht so hören, wie ein anderer sie hört. "Beide, Stimme und Duft, sind auf 'den Anderen' bezogen."[13]
Ich rede, um gehört zu werden, um verstanden zu werden. "Wir verstehen uns, solange wir das Bedürfnis haben, Mißverständnisse zu verhindern oder auszuräumen. Hört dieses Bedürfnis auf, endet das Verstehen. Wir verstehen uns über Mißverständnisse."[14]
Das Riechen bzw. "Schnüffeln" bezieht sich auf andere Menschen oder auf Situationen, welches folgenschwere Bewertungen nach sich zieht. Sympathie und Antipathie, Verbleib und Flucht, Anziehung und Abstoßung resultieren wesentlich aus Geruchserfahrungen. Es wird deutlich: auch hier am Duftbaum werden polare Erfahrungen gewonnen.

 

Vom Be-greifen

"Wir sehen in Begriffen"

Im 'Erfahrungsfeld...' erwarten den Besucher 20 Paare offener Behälter, die jeweils zu einem Viertel mit unterschiedlichen Materialien gefüllt sind. Mit dem Händen greift man - ohne Hinsehen - in die Behälter, um die Beschaffenheiten zu erfühlen.

 

Die Doppelbedeutung des Wortes Begreifen hat mich immer fasziniert. Wie hängt das Taktile bzw. das Haptische "Begreifen" mit dem Begreifen komplexer bzw. abstrakter Sachverhalte zusammen? Wie wird aus dem Begreifen der Begriff - das Denken?
Von Waldorf-Pädagogen habe ich gelernt, mit Kindern (bis etwa zum 2. Schuljahr) nicht zu früh zu rationalisieren. Sie sollen Erfahrungen machen, viel be-greifen, aber noch nicht darüber reflektieren, analysieren oder nach-denken. Diese Einstellung übertrage ich auch auf den Besuch des 'Erfahrungsfelds...' mit jenen Kindern. Die Erfahrungen wirken für sich, und sie bleiben in archaischer Erinnerung. Ältere Kinder fragen dann nach dem Warum. Sie wollen physikalische Zusammenhänge erklärt bekommen oder selber Erklärungen herausfinden.
Die Materialien in den Behältern bilden wiederum Gegensätze, wie z.B. rauh - glatt, hart - weich, trocken - feucht, spitz - rund. Kükelhaus rät, beim Ertasten auf die Art und Weise wie sich die Finger bewegen, zu achten. "Die Substanzen werden mit Daumen und Zeigefinger genommen und leicht gerieben. Es ist die gleiche Bewegung, die die Zunge ausführt, wenn sie kostet! ... Das, worauf es ankommt, ist ein 'Dazwischen'..."[15] Ich denke an den Begriff Intelligenz (inter-legere = dazwischen, zwischen den Zeilen, lesen). Wer das Dazwischen begreift, ist intelligent.
Bei vorzubereiteten Übungen in Einrichtungen für Kinder soll die Polarität der jeweiligen Fühlobjekte beachtet werden. Es geht nicht einfach nur um Materialerfahrungen, sondern auch um die Wahrnehmung von Gegensatzpaaren.

 

Vom Schaukeln

"Leben ist Schwingung."

Im 'Erfahrungsfeld...' erwartet den Besucher eine Partner-Schaukel, wobei im Wechsel jeweils ein Partner aktiv ist, während sich der andere solange in einer Ruhestellung befindet, bis der andere ausgeschaukelt hat. Dann gerät ersterer wie von selbst wieder in Schwung...

 

Schaukeln ist eine einzigartige, ganzkörperliche Pendelerfahrung. In ihr wird das unweigerliche, unaufhaltsame Hin und Her, das Auf und Ab, sowie das Steigen und Fallen erfahren. "Der Wechselrhythmus wird in vollen Zügen genossen".
Die Kükelhaus'sche Partner-Schaukel ist durch zwei parallele, am Haltegerüst aufgehängte Seile, miteinander verbunden. Den gewünschten Effekt erreichen diejenigen, die sich aufeinander einstimmen oder besser einschwingen, indem sie den Wechsel des mal Aktiveren und mal Passiveren akzeptieren, d.h. beachten,  und ihre Schwingkraft den Möglichkeiten des Gerätes angleichen. Gleichzeitig kann eine universale Gesetzlichkeit gefühlt werden: Gegensätze wirken zueinander, bedingen sich und befinden sich in einem permanenten Wechselspiel. Kein Pol könnte ohne seine gegensätzliche Entsprechung sein.
Wenn finanzielle Mittel fehlen (und wo fehlen sie nicht?), sich in einer Einrichtung eine Partner-Schaukel anzuschaffen, so ist wie immer Kreativität statt Verzagen angesagt. Im pädagogischen Team könnten Ideen gesammelt werden, in welcher Weise und mit welchen Geräten das Phänomen des Schaukelns erfahren werden könnte. Vielleicht läßt sich ein alter Fallschirm organisieren, oder große Decken? Vielleicht baut jemand aus dem Elternkreis eine Schaukel? Man könnte auch überlegen, wie ganz ohne Hilfsmittel geschaukelt werden könnte.

 

Vom Fühlen

Beim Besuch des 'Erfahrungsfeldes...' erwarten den Besucher mehrere Gerüste. An einem davon hängen an jeweils zwei dünnen Stahldrahtseilen freischwingend insgesamt etwa 9 Kugeln aus gehärtetem Stahl.

Eine oder ein paar Kugeln werden manuell etwa ½ m "ausgelenkt" (nicht angehoben) und dann losgelasasen: klack, klack, klack... im Rückschwung schnellen nun die anderen Kugeln empor, während die ersten in Ruhestellung bleiben bis zum nächsten Anstoß usf. "Die Stoßkraft wandert durch die auf der Stelle verharrende Masse der Kugeln hindurch."[16]  Kükelhaus weist auf die Ausdrücke Kraft, Impuls und Stoß, die aus der Empfindungs- und Gefühlswelt abgeleitet sind. Und beim visuellen Mitverfolgen der pendelnden Kugeln stelle sich eine Art "Fühldenken" ein.
Unwillkürlich werde ich an Rückkopplungen (ein Begriff aus der Kybernetik) erinnert, die grundlegenden Einfluß auf das sog. systemische Denken nehmen. Impulse stehen nicht beziehungslos im Raum, sie beeinflussen unmittelbar weitere Effekte, die ihrerseits wieder zurückwirken. Heute wissen wir, daß selbst kleinste Ursachen größte Wirkungen auslösen können. In diesem Wechselspiel wird die anfängliche Ursache immer unbedeutender und die Wechselwirkungen an sich treten in den Vordergrund unserer Aufmerksamkeit.

In der Pädagogik gibt es die Methode des "stillen Impulses". Ohne verbale Einführungen bzw. Anleitungen wird z.B. ein Gegenstand in den Raum gelegt (etwa ein Ball), der durch seinen Aufforderungscharakter entsprechende Wirkungen erzielt. "Impulsfiguren" lösen Reaktionen aus, z.B. Assozziationen, Handlungen, Gefühle oder Antworten; diese wiederum können als neue Impulse fungieren. Alles hängt mit allem zusammen, alles steht in Beziehung, nichts ist wirklich statisch, alles bewegt sich.
Viele Spiele beinhalten diese Art "Elastizität", Ballspiele, Gummitwist, Tischtennis usf.
Ich sah einmal jemanden, der sehr viele Dominosteine hintereinander aufstellte, um sie dann durch Anstoßen des ersten, alle umkippen zu lassen (kleine Ursache - große Wirkung).
Die Impulskugeln vermitteln das Gefühl für einfache und komplexe Zusammenhänge. Selbst der scheinbare Stillstand ist nur die Vorbereitung zur aktiven Re-aktion, zur Aktion... Das was beim Beobachten der Impulskugeln in ihrer Hin und Her - Bewegung offensichtlich ist, ist in der Erziehungspraxis meist unsichtbar. Erzieherische Impulse wirken dort oft nicht unmittelbar. Die Wirkungskraft erweist sich oft viel später. Der sog. Reiz-Reaktions-Rhythmus kann zeitlich gestreckt sein, die pädagogischen Auswirkungen sind nicht immer sofort erkennbar.

Schlußbetrachtungen

Nach dem Besuch des 'Erfahrungsfeldes...' stellt sich die Frage, wie ähnliche Erfahrungen mit den sog. Phänomenen übertragen werden können in die pädagogische Alltagswelt. Dazu braucht es Menschen-Kinder, die sich etwas einfallen lassen.
Nicht alle Sinneserfahrungen gewinnen an Bedeutung und Aufmerksamkeit durch das "Spielen mit der Negation", d.h. die (weitestgehende) Ausblendung eines bestimmten Sinnes. Dennoch: der Gedanke ist faszinierend und erinnert mich übrigens an die Verhüllungskünstler Christo und Jeanne-Claude. Gerade sie lenken die Aufmerksamkeit auf Objekte und machen sie letztlich sichtbar.
Hogo Kükelhaus ging es nicht bloß um die Funktionsbedeutung einzelner Sinne und auch nicht um isolierte Sinnesübungen (sie sind aus meiner Sicht pädagogisch kontraindiziert). Entscheidend ist immer der Kontext, sind die Beziehungen der Sinneswahrnehmungen mit kosmischen bzw. natürlichen, physikalischen Gesetzmäßigkeiten.

Ich will abschließend eine Tabelle jener Phänomene darstellen, um die es Kükelhaus wesentlich geht. Die Beispiele müßten von Praktikern ergänzt werden.

 

Gravitation

Symmetrien

Polarisation

Balancen

Resonanzen

Elastizitäten

Pendel

Spiralen Doppelhelix

hell-dunkel

Balance- scheiben

Summstein

Gummi

Schaukel

Kaleidoskop

laut-leise

Wippe

Echo

Stuhlfeder

schwingender Gesteinsblock

 

süß-sauer

Rotations- Scheibe

Frage und Antwort

Expander

 

 

nah-fern

 

Muschel

Trampolin

 

 

stinken- duften

 

Stimmgabel

Impulskugeln

 

 

 

 

Gong

 

 

 

LITERATUR:

 

Kükelhaus, Hugo: Erfahrungsfeld zur Entfaltung der Sinne (Handbuch, Gelsenkirchen), o.J.
Kükelhaus, Hugo: Urzahl und Gebärde (Klett & Balmer, Zug/Schweiz), 19925
Kükelhaus, Hugo: Fassen, Fühlen, Bilden. Organerfahrungen im Umgang mit Phänomenen. (Gaia, Köln), 19956
Kükelhaus, Hugo: Hören und Sehen in Tätigkeit. (Klett & Balmer, Zug/Schweiz), 1990
Kükelhaus, Hugo: Organ und Bewußtsein (Gaia, Köln), 19914
Kükelhaus, Hugo/zur Lippe, Rudolf: Entfaltung der Sinne. Ein "Erfahrungsfeld" zur Bewegung und Besinnung (Fischer, Frankfurt), 1994

ADRESSEN:

Hugo Kükelhaus Gesellschaft (Archiv; Museum)
Nöttenstr. 29a
59494 Soest
Tel.: 02921 - 33302

Erfahrungsfeld zur Entfaltung der Sinne (Verleih der Ausstellung und Infos)
Gemeinnützige Forschungs- und Bildungsgesellschaft m.b.H.
Am Handwerkerpark 8 - 10
45309 Essen - Katernberg
Tel.: 0201 - 30103 - 0
FAX: 0201 - 3010333

Gesellschaft Natur und Kunst e.V. (ein Besuch lohnt sich!)
Schloß Freudenberg
65201 Wiesbaden
Tel.: 0611 - 9410725
FAX: 0611 - 9410726

 

Dieser Aufsatz erschien in
Mara Dittmann (Hrsg.): Entfaltung aller Sinne. Projektbuch für den Kindergarten. Weinheim 1997

 


[1]zit. nach Dederich, M.: Erleben - Erfahren - Begreifen. Hugo Kükelhaus als Wegbereiter der modernen Erlebnispädagogik. Verlag Edition Erlebnispädagogik (Lüneburg)

 [2]graubner Spielstationen                            Richter Spielgeräte GmbH
Quellenweg 1                                                Simsseestr. 29
79737 Herrischried - Großherrischwand           83112 Frasdorf

[3]vgl. auch: Geißler, Karl-Heinz: Zeit zum Gehen. Eine abschiedliche Trödelei. In: UNIVERSITAS 12/95 (Stuttgart)

[4]vgl. auch: Behrendt, Joachim - Ernst: Nada Brahma. Die Welt ist Klang. rororo (Reinbek)

[5]H.K.: Hd.-buch, S. 15

[6]H.K.: FFB, S. 38 f.

[7]H.K.: FFB, S. 38

[8]H.K.: Hd.-buch, S. 15

[9]Anm.: Ich möchte das Nicht-Hören (sofern es wirklich möglich ist) nicht mit dem Phänomen der Stille gleichsetzen. Die Stille gilt als etwas positiv-heilsames, während Resonanzlosigkeit in kurzer Zeit unerträglich, also negativ, wirkt.

[10]vgl. auch: Berg, Karl-Heinz: Duftwirkungen auf der Spur. Eine anthropologische Studie zu Geruchseinflüssen im körperlichen, seelischen u. geistigen Bereich. Gießener Dokumentationsreihe Bd. 10 (vergriffen; Interessenten wenden sich bitte an D. Lotz)

[11]H.K.: FFB, S. 99

[12]H.K.: Hdbuch, S. 6

[13]H.K.: FFB, S. 98

[14]H.K.: FFB, S. 99

[15]H.K.: FFB, S. 139 f.

[16]H.K.: FFB, S. 23



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