Hugo Kükelhaus und Rudolf Steiner - Schlössli Ins
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„<strong>Hugo</strong> <strong>Kükelhaus</strong> <strong>und</strong> <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong>“ – von Ueli Seiler-<strong>Hugo</strong>va<br />
<strong>Hugo</strong> <strong>Kükelhaus</strong> <strong>und</strong> <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong><br />
Eine Zusammenschau ihrer Anliegen anhand<br />
des Textes „Der kindliche Organismus als<br />
pädagogisches Subjekt“ aus „Organismus<br />
<strong>und</strong> Technik“ von <strong>Hugo</strong> <strong>Kükelhaus</strong> mit<br />
besonderer Berücksichtigung der<br />
Praktizierung dieser Anliegen in der<br />
Bildungsstätte <strong>Schlössli</strong> <strong>Ins</strong>, Schweiz<br />
Ueli Seiler-<strong>Hugo</strong>va.<br />
Vorbemerkung<br />
1979 konnte ich die <strong>Kükelhaus</strong> - Ausstellung in Zürich am Seilergraben besuchen.<br />
Dort begegnete ich <strong>Hugo</strong> <strong>Kükelhaus</strong> persönlich das einzige Mal. Er selbst schien mir<br />
wie ein Nachbild Goethes: mit weissen Haaren, eine schön klingende Sprache, eine<br />
kaligrafisch w<strong>und</strong>ervolle Schrift, all die schwingenden, künstlerisch gestalteten<br />
interaktiven Objekte. – In allem erschien der ganzheitliche Mensch. Nicht eine<br />
Theorie kam einem entgegen, sondern Phänomene. Ich legte mich mit nackten<br />
Füssen auf eine Liege <strong>und</strong> <strong>Hugo</strong> <strong>Kükelhaus</strong> schlug den Gong vor meinen<br />
Fusssohlen <strong>und</strong> die Schallwellen durchströmten meinen Körper.<br />
Am 16. Januar 1999 hielt ich einen Vortrag an der Eröffnung des<br />
Sinneserfahrungsfeldes in Frauenfeld. Später wurde ich Mitarbeiter am Sensorium in<br />
Rüttihubelbad bei Worb, Kt Bern Bern, wo ich vor allem bei externen Ausstellungen,<br />
farbigen Schatten, Additionen der Farben <strong>und</strong> Prisma-Farben mitinszenierte. In<br />
diesem Zusammenhang baute ich im März 2006 an der Museumsnacht in Bern ein<br />
Regenbogenistrument, wo man bei Nacht einen Regenbogen sehen konnte. Über<br />
1000 Berner <strong>und</strong> Bernerinnen hatten die Möglichkeit, ihren persönlichen<br />
Regenbogen vor dem B<strong>und</strong>eshaus zu sehen. Dies konnte ich auch in der 2. Auflage<br />
meines Buches „Farben sehen erleben verstehen“ (AT Verlag), dokumentieren.<br />
35 Jahre (1972-2007) leitete ich die anthroposophisch orientierte Bildungsstätte<br />
<strong>Schlössli</strong> <strong>Ins</strong>. Mit der Waldorfpädagogik vertraut, bemerkte ich schnell, wie die<br />
Anliegen von <strong>Kükelhaus</strong> sich mit denen von <strong>Steiner</strong> decken. Meines Wissens hat<br />
sich <strong>Kükelhaus</strong> nicht mit der Anthroposophie beschäftigt. Er war ja vielmehr der<br />
Handwerker als der Okkultist. Und dennoch sind seine Erkenntnisse frappant ähnlich<br />
mit denen von <strong>Steiner</strong>.<br />
Der kindliche Organismus als pädagogisches Subjekt<br />
Entwicklungsgeschichtlich sei der Mensch nach der Geburt, bis etwa zu seinem<br />
achten Lebensjahr, ein „aussermütterliches Embryo“ sagt <strong>Hugo</strong> <strong>Kükelhaus</strong>. Danach<br />
ist es die Gesellschaft, die den „Mutterschoss“ bildet, um eine ges<strong>und</strong>e Entwicklung<br />
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„<strong>Hugo</strong> <strong>Kükelhaus</strong> <strong>und</strong> <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong>“ – von Ueli Seiler-<strong>Hugo</strong>va<br />
des Kindes zu ermöglichen. „Jedes Versäumnis dagegen – (ist) eine Art<br />
nachgeburtlicher Abtreibung.“ Auch bei <strong>Steiner</strong> ist der Mensch bei der Geburt erst<br />
physisch geboren.<br />
Er bedarf, so <strong>Steiner</strong>, während des ersten Jahrsiebend (bis zum Zahnwechsel) einer<br />
lebendigen Ätherhülle. Die Körpernähe zur Mutter <strong>und</strong> zum Vater, natürliche<br />
ges<strong>und</strong>e Ernährung, Spielzeuge aus Naturstoffen, Natur als Umgebung,<br />
zeitgestaltende Rituale, Jahreszeitentische, rhythmische Lieder <strong>und</strong> Sprüche usw.<br />
schaffen diese Hülle, worin das Kind sich entwickeln kann. Erst mit sieben Jahren<br />
wird das Kind ätherisch geboren, d.h. es besitzt nun einen eigenen Ätherleib.<br />
Doch während der nächsten sieben Jahren, der eigentlichen Schuljahren, umgibt den<br />
Schüler, die Schülerin eine seelenhafte Astralhülle. Die geliebte Autorität, etwa des<br />
Lehrers, der Lehrerin, ist Voraussetzung einer ges<strong>und</strong>en seelischen Entwicklung.<br />
Mit vierzehn Jahren wird der Astralleib geboren. Nun ist der/die Jugendliche seelisch<br />
selbständig.<br />
Bis zum ein<strong>und</strong>zwanzigsten Lebensjahr erfolgt nun noch die Verselbständigung des<br />
Ich. Erst jetzt, in der Ich-Geburt, ist der Mensch mit all seinen Wesensgliedern<br />
geboren. <strong>Steiner</strong> erweitert somit die Zeit des „aussemütterlichen Embryos“ von<br />
<strong>Kükelhaus</strong> bis zum 21. Altersjahr.<br />
<strong>Kükelhaus</strong> beschreibt nun, wie das Kind durch das Spiel „begierig ist, sich selbst zu<br />
erfahren“ <strong>und</strong> vor allem durch das Spiel seinen eigenen Organismus erfährt <strong>und</strong><br />
bildet. Es ist die „Auseinandersetzung mit den Erscheinungen der Umwelt. Im Spiel<br />
versucht das Kind, sich selbst in seinem Leib-Körper-Prozess zu erfahren, indem es<br />
seinen eigenen Organismus zum Objekt des Spieles macht.“<br />
Hier vertritt <strong>Kükelhaus</strong> ganz die Anliegen von J. W. v. Goethe. Überhaupt identifiziert<br />
sich <strong>Kükelhaus</strong> ganz mit Goethes Geistesart. Auch Goethe fordert, vor allem im<br />
Zusammenhang mit der Farbenlehre, dass der Mensch die Organe belehren soll.<br />
Auch <strong>Steiner</strong> ist zunächst Goetheanist, indem er seine naturwissenschaftlichen<br />
Werke herausgibt. Für <strong>Steiner</strong> ist das Spiel das Thema im ersten Jahrsiebend. Im<br />
zweiten folgt dann das Lernen, im dritten das Arbeiten. Lernt das Kind zunächst<br />
durch Nachahmung, dann über eine geliebte Autorität, so kann nun der Jugendliche<br />
bis zum 21. Lebensjahr – in einer ihn durch moralische Persönlichkeiten<br />
umgebenden freiheitlichen Hülle – zur Ich-Geburt kommen.<br />
<strong>Kükelhaus</strong> beschreibt weiter, wie die Kinder „das Sehen sehen“, „das Hören hören“<br />
(etwa im Echohören), balancieren üben (beim Bauklötze auftürmen), Elastizität<br />
erfahren bei Ballspielen („Verformungsprozess ist die Bedingung der<br />
Formgewinnung“), Schwingungsgesetze beim Schaukeln erüben.<br />
<strong>Steiner</strong> spricht in seiner 12-Sinnenlehre von den unteren vier Sinnen: Tastsinn,<br />
Lebenssinn, Bewegungssinn, Gleichgewichtssinn. Die Kinder wollen alles ertasten;<br />
das Lebensgefühl erleben in der ges<strong>und</strong>en Nahrungsaufnahme, in einer energetisch<br />
möglichst naturhaften Umgebung; sie wollen sich bewegen, tanzen, auf Mauern<br />
laufen, auf Bäume klettern, balancieren usw.<br />
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„<strong>Hugo</strong> <strong>Kükelhaus</strong> <strong>und</strong> <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong>“ – von Ueli Seiler-<strong>Hugo</strong>va<br />
<strong>Kükelhaus</strong> verweist auf die Fähigkeit der Kinder, die „spielend zwei, drei<br />
Fremdsprachen erlernen“. – Meine eigenen Kinder (6-, 11- 13-jährig) sprechen<br />
fliessend Schweizer-Deutsch-Dialekt, Hochdeutsch <strong>und</strong> Tschechisch; meine Frau ist<br />
Tschechin. <strong>Steiner</strong> begründete als erster Pädagoge in den Waldorfschulen von der<br />
ersten Klasse an das Erlernen der Fremdsprachen, die hier spielend, singend in<br />
Form von Theater erübt werden.<br />
Im Weiteren verweist <strong>Kükelhaus</strong> in Bezug auf das Erlernen der Fremdsprachen<br />
organologisch auf die Tatsache, die auch <strong>Steiner</strong> immer wieder aufzeigt: „Das so<br />
Gehörte wird durch bestimmte Nervenbahnen direkt in das vegetative Zentrum<br />
geleitet <strong>und</strong> nicht etwa nur in das Grosshirn; dort wird es erst später eingeblendet!“<br />
Um sich postnatal entwickeln zu können, braucht das Kind eine natürliche<br />
Umgebung, Dass das nicht selbstverständlich ist, berichtet <strong>Kükelhaus</strong> über den Bau<br />
eines Schulhauses in New York Anfang 1967: Aus scheinbar besten Motiven wollte<br />
man die Kinder von der Natur abschirmen <strong>und</strong> baute deshalb ein Schulgebäude<br />
ohne Fenster, ohne Tageslicht, mit PVC-Böden <strong>und</strong> durch von allen Seiten<br />
beleuchtete schattenlose Räume, eine weder mit Farben noch mit Pflanzen<br />
versehene Umgebung <strong>und</strong> ohne Schulhof. Das Resultat waren Phobien, Neurosen,<br />
aggressive Ausbrüche, psychische <strong>und</strong> physische Erkrankungen sowohl bei den<br />
Kindern als auch bei den Lehrern. Die Eltern <strong>und</strong> die Lehrerschaft erhoben Klage.<br />
„Die Behörde verschrieb kostenlose Glutaminverabreichung“!<br />
1974 baute die Bildungsstätte <strong>Schlössli</strong> in <strong>Ins</strong> ein Schulhaus mit vier Schulräumen<br />
<strong>und</strong> einem Bildhaueratelier. Das Haus wurde als Riegelhaus gebaut <strong>und</strong> die Kinder<br />
<strong>und</strong> Jugendlichen bauten dabei mit, was für die „<strong>Schlössli</strong>-Pädagogik“<br />
selbstverständlich ist. – Die Fachwerke wurden von den Schüler <strong>und</strong> Schülerinnen<br />
ausgemauert, ebenso das mit Ziegelsteinen auf Lehren errichtete Deckengewölbe<br />
zwischen den Balken. Und die Schüler der Unterstufe verlegten den gedeckten<br />
Aussengangboden mit schönen Mosaiken mit Tierkreismotiven.<br />
Der unebene Boden <strong>und</strong> die mit Natursteinen gepflasterte Treppe dieses<br />
Schulhauses waren wegen der Laienhaftigkeit der Schüler <strong>und</strong> Schülerinnen schon<br />
damals als die ideale, das Gleichgewicht fördernde „<strong>Kükelhaus</strong>boden“ bezeichnet.<br />
So machte man aus der Not eine Tugend: Fenster <strong>und</strong> Mauern mit Licht <strong>und</strong><br />
Schattenspiel, eine Holzkonstruktion mit unzähligen Holzsäulen (aus Bäumen, die<br />
auf dem <strong>Schlössli</strong>boden gewachsen sind), Türgriffe, die in der hauseigenen<br />
Giesserei angefertigt wurden usw. – Der mit Naturmaterialen <strong>und</strong> zum Teil mit<br />
Kindern geschaffenene Bau ergab ein Ambiente, der noch nach 30 Jahren Wärme<br />
<strong>und</strong> Frische ausstrahlt.<br />
<strong>Kükelhaus</strong> hätte zu diesem <strong>Schlössli</strong>-Objekt sagen können: „Um diese vegetativen<br />
Entwicklungsspiele vollführen zu können, bedarf das Kind, wie bereits angedeutet,<br />
baukörperlich rhythmisierter Räume –, das heisst Räume, die durch ihre<br />
Zustandsunterschiede eine dauernde Provokation der Bewegungs- <strong>und</strong><br />
Sinnessysteme darstellen. Es bedarf einer räumlichen Welt, die den modernen<br />
Erkenntnissen einer konstanten Raum-, Licht- <strong>und</strong> Bewegungsführung gerecht wird:<br />
einer durch Niveauvorsprünge labyrinthisch geführten Welt, in der es in immer neue<br />
Räume des nicht voll Verfügbaren, Überraschungsbietenden quasi Risikohaften<br />
eindringen kann.“<br />
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„<strong>Hugo</strong> <strong>Kükelhaus</strong> <strong>und</strong> <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong>“ – von Ueli Seiler-<strong>Hugo</strong>va<br />
In unseren Unterstufenklassen (1.-4. Klasse) praktizieren wir „das bewegte<br />
Klassenzimmer“, wo es weder Tische noch Stühle gibt, sondern nur Bänke <strong>und</strong><br />
Kissen. In den Unterricht ist Bewegung, Spiel <strong>und</strong> auch eine Art „Urspiel“ auf Matten<br />
integriert, bei dem die Schüler <strong>und</strong> Schülerinnen spielerisch lernen, sich körperlich zu<br />
begegnen, Aggressionen abzubauen usw.<br />
<strong>Kükelhaus</strong>: „Immanuel Kant sagte: ‚Die Hand ist das äussere Gehirn des Menschen.’<br />
Jeder, der manuell tätig ist, kann das bestätigen – sei er nun Musiker oder Bildhauer.<br />
Seine Hände haben seinem Verstand gegenüber etwas voraus, nämlich die<br />
Universalität der Bewegungen. Mit anderen Worten: Die Bewegungen der Hand sind<br />
weniger auf ganz bestimmte Ziele, die sich das Gehirn setzt, in Zusammenhang mit<br />
vielen anderen Zielen zu bringen, <strong>und</strong> so gleichsam eine Zielgestalt zu formulieren.<br />
Hinzu kommt, dass beim Neugeborenen die Tastkörperchen an den Fingerspitzen<br />
eine mehrfach grössere Anzahl ausmachen als die beim Erwachsenen. Und dies gilt<br />
in noch höherem Mass für die Fusssohle.“<br />
<strong>Kükelhaus</strong> schildert nun, wie „der Fuss des Menschen eine besondere Bedeutung<br />
hat“. Der Fuss ist „das nach aussen gewendete autonome oder vegetative<br />
Nervensystem, in Sonderheit die Fusssohle“. In der Fussreflexzonentherapie wird<br />
diese Tatsache berücksichtigt. Der Fuss sei „eine Antenne für alles, was unterhalb<br />
des stehenden Menschen vor sich geht. Im Aramäischen ist das Wort für Mensch<br />
identisch mit dem Wort Fuss. Der kultische Brauch der Fusswaschung, wie er noch<br />
heute in den christlichen Religionen gepflegt wird, bedeutet eigentlich Waschung des<br />
ganzen Menschen.“<br />
In der Bildungsstätte Schössli wird waldorfmässig viel gewerkt; auch die Buben<br />
werken textil. Rechnen <strong>und</strong> Sprache werden in der Unterstufe vor allem mit<br />
körperlichen Geschicklichkeitsspielen, wo vor allem die Hände <strong>und</strong> Füsse rhythmisch<br />
gefordert werden, gelernt. Zuerst sollen es die Hände, die Füsse greifen, dann das<br />
Hirn be-greifen.- Jeden Morgen <strong>und</strong> bei jeder Witterung trifft sich die<br />
Heimgemeinschaft stehend in einem Morgenkreis. Nach dem Austausch von<br />
Informationen steigt man 8 Treppen <strong>und</strong> dann noch weitere 3 Treppen in die Tiefe<br />
eines Gewölbes <strong>und</strong> singt <strong>und</strong> hört sich eine Geschichte an.<br />
Ich hatte mit Jugendlichen einige mehrwöchige Langstreckenwanderungen gemacht,<br />
z. B. von Meer zu Meer: von Pesaro über den Apennin nach Assisi <strong>und</strong> weiter nach<br />
Tarquinia. Diese Fusswanderungen – oft bei grosser Hitze, aber auch bei kühler<br />
Nacht, oft auch etwas durstend <strong>und</strong> hungernd, immer draussen übernachtend –<br />
gaben den Jugendlichen über die Füsse <strong>und</strong> ihren Leib alle Informationen der<br />
sinnlichen <strong>und</strong> energetischen Natur. – Unvergesslich!<br />
<strong>Kükelhaus</strong>: „Das Kind lernt ja nicht durch den ‚Kopf’, sondern durch die Rhythmik<br />
seiner Bewegungssysteme <strong>und</strong> durch seine Sinne.“ Unsere Schüler <strong>und</strong><br />
Schülerinnen haben dafür die von <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong> geschaffene Schuleurythmie. Durch<br />
Sprache <strong>und</strong> Musik werden der Leib, die Organe bewegt <strong>und</strong> belehrt.<br />
<strong>Kükelhaus</strong> verweist auf das Überangebot von künstlichem Licht von heute: über<br />
1000 Lux. Zu Rembrands Zeiten waren 60 bis 100 Lux üblich <strong>und</strong> zu Goethe-Zeit<br />
etwa 150 Lux. Die heutige Reizüberflutung zeigt sich nicht nur in der aus dem<br />
Lautsprecher kommenden Musik unserer Jugendlichen, sondern auch in der<br />
klassischen Musik: An der internationalen Tagung der Waldorflehrer <strong>und</strong> -<br />
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„<strong>Hugo</strong> <strong>Kükelhaus</strong> <strong>und</strong> <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong>“ – von Ueli Seiler-<strong>Hugo</strong>va<br />
lehrerinnen, im März 2008 in Dornach, führten uns Wissenschaftler vor, wie die<br />
Musik von Mozart heute gespielt wird <strong>und</strong> wie sie zu seinen Zeiten anzuhören war.<br />
Die heutige Mozart-Interpretation ist erstens ein paar Töne zu hoch <strong>und</strong> zweitens viel<br />
zu schnell. Erst in der ursprünglichen Fassung (tiefer <strong>und</strong> langsamer) spürten wir,<br />
dass die in Höhe <strong>und</strong> Geschwindigkeit originalen Musik im Gleichklang mit unseren<br />
Leibesrhythmen korrespondierte.- Sogar die heutige klassische Musik stresst uns,<br />
weil sie nicht mehr leibes-konform ist.<br />
Die Augen <strong>und</strong> die Ohren sind heute überreizt. Kein W<strong>und</strong>er, dass unsere Kinder<br />
Probleme haben <strong>und</strong> krank werden <strong>und</strong> dann mit Ritalin gefüttert werden müssen. –<br />
Die Sinnesreize dürfen eben nicht zu schwach aber vor allem nicht zu stark sein.<br />
„So“, fährt <strong>Kükelhaus</strong> fort, „ist auch die Klimatisierung in den Räumen katastrophal.<br />
Erst durch Schwankungen in der Sinnesempfindung lassen sich die Organe bilden.“<br />
<strong>Kükelhaus</strong> schliesst dieses Kapitel zusammenfassend: „Der Weg vom“ homme<br />
automate“ Bergons zum anthropologisch denkenden Menschen führt unvermeidlich<br />
über das Kind, dessen Erlebnis- <strong>und</strong> Lernfähigkeit es zu retten gilt. Diese Erlebnis-<br />
<strong>und</strong> Lernfähigkeit ist aber kein Wissensstoff, der rezepthaft übertragbar wäre,<br />
sondern jene elastische Energie, die den vorgeburtlichen Aufbau des kindlichen<br />
Organismus angetrieben <strong>und</strong> gesteuert hat <strong>und</strong> als Spiel im nachgeburtlichen Leben<br />
weiterschwingt, falls sie nicht wie bisher durch Fehlregulationen zunichte gemacht<br />
wird.“<br />
In unserer Bildungsstätte wird die Bildung der Sinne durch Theater, Puppenspiel,<br />
Spiel, Handwerk, Rituale, Landwirtschaft <strong>und</strong> Tiere (Pferde, Esel, Kühe, Schweine,<br />
Hühner, H<strong>und</strong>e u. a.), durch Erlebnispädagogik in der Natur in Projekten mit<br />
Wandern, Klettern, Kanufahren, Schwimmen, Byken, Ballspiele usw. stark in den<br />
Mittelpunkt gesetzt. Die Sinneserfahrungsfelder im Sinne von <strong>Kükelhaus</strong> werden<br />
zwar auch benutzt, aber die Sinnesschulung geschieht im Schulzimmer, in den<br />
Werkstätten, in unserem Park, in der Natur. Wir haben im Rosenhofpark ein<br />
Astrolabium zur Beobachtung der Sterne <strong>und</strong> Sonne <strong>und</strong> des Mond gebaut. Hier<br />
können im Sinne von <strong>Kükelhaus</strong> Symmetriebewegungen erlebt werden.<br />
<strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong>s Pionierarbeit ist seine umfassende Sinneslehre, in der er schon vor<br />
100 Jahren von 12 Sinnen gesprochen hat. Ich werde sie hier nur kurz skizzieren<br />
<strong>und</strong> im folgenden die Kosmologie der Sinne von <strong>Steiner</strong> ohne viel Kommentar<br />
dokumentieren:<br />
Sie ist hierarchisch, ganzheitlich <strong>und</strong> eben als Zwölfheit konzipiert. Die klassischen 5<br />
Sinne – Tasten, Riechen, Schmecken, Sehen <strong>und</strong> Hören – werden heute auch von<br />
der Schulwissenschaft erweitert. Im „Handbuch der Sinnes-Wahrnehmung“ von<br />
Renate Zimmer (Herder Verlag) kommen dazu: der Wärmesinn, der aber bei ihr dem<br />
Tasten zugewiesen wird, der Bewegungssinn, der Gleichgewichtssinn <strong>und</strong> der<br />
Sprachsinn, der dem Hören zugeteilt wird <strong>und</strong> der Lebenssinn wird bei ihr etwa dem<br />
Geschmacksinn zugeordnet.<br />
Im Sinne von <strong>Steiner</strong> fehlen dann noch der Denksinn <strong>und</strong> der Ich-Sinn. Dass die<br />
Gedanken <strong>und</strong> Ideen als höhere Sinneswahrnehmungen gesehen werden können,<br />
ist vielleicht noch allgemein einleuchtend. Doch dass das Ich des anderen Menschen<br />
eine Sinneswahrnehmung sei, ist für viele neu. Und doch ist gerade die<br />
Wahrnehmung des Anderen als Individuum wohl das Wichtigste in der sozialen<br />
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„<strong>Hugo</strong> <strong>Kükelhaus</strong> <strong>und</strong> <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong>“ – von Ueli Seiler-<strong>Hugo</strong>va<br />
Kunst. Im Umgang mit Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen ist die gegenseitige Ich-<br />
Wahrnehmung von zentraler Bedeutung. In dieser Wahrnehmung liegen die<br />
Vergangenheit, Gegenwärtigkeit <strong>und</strong> Zukunft dieser Individualität beisammen. Wer<br />
sich in seinem Ich wahrgenommen fühlt, fühlt sich in seiner Menschenwürde<br />
wertgeschätzt.<br />
Hier werden nun einige Skizzen der Sinneslehre von <strong>Steiner</strong> angefügt. Sie<br />
entstanden z. T. aus meiner langjähriger Kursarbeit über die Sinneslehre von <strong>Rudolf</strong><br />
<strong>Steiner</strong>.<br />
Ich-Sinn<br />
Gedankensinn<br />
Sprachsinn<br />
Gehörsinn<br />
Wärmesinn<br />
Sehsinn<br />
Geschmacksinn<br />
Geruchssinn<br />
Gleichgewichtssinn<br />
Bewegungssinn<br />
Lebenssinn<br />
Tastsinn<br />
Die zwölf Sinne<br />
nach <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong> (1861-1925)<br />
IDEALITÄT<br />
Die Erscheinung wird mir<br />
bewusst.<br />
Das andere Wesen erfahren.<br />
Ich habe Teil an der anderen<br />
Welt.<br />
Der eigene Leib wird mir<br />
bewusst.<br />
Eigenes Wesen erfahren.<br />
Ich bin in dieser Welt.<br />
REALITÄT<br />
obere Sinne – geistig<br />
objektiv<br />
wach<br />
mittlere Sinne – seelisch<br />
Sympathie / Antipathie<br />
träumend<br />
untere Sinne – leiblich<br />
subjektiv<br />
schlafend (unbewusst)<br />
Bei der Wahrnehmung sind stets mehrere Sinne aufs Mal beteiligt.<br />
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„<strong>Hugo</strong> <strong>Kükelhaus</strong> <strong>und</strong> <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong>“ – von Ueli Seiler-<strong>Hugo</strong>va<br />
FEUER<br />
LUFT<br />
WASSER<br />
ERDE<br />
Die BASAL-SINNE<br />
im Zusammenhang mit dem vier Elementen<br />
Gleichgewichtssinn<br />
Bewegungssinn<br />
Lebenssinn<br />
Tastsinn<br />
Ich<br />
Herz<br />
Seele<br />
Lunge, Arme, Beine<br />
Lebensleib<br />
Organe, Bauch<br />
Physischer Leib<br />
Haut, Füsse, Kopf<br />
Die Basal-Sinne sind die existentiellen Sinne der Kindheit. Sie sind die Basis der<br />
Welterfahrung, Gr<strong>und</strong>lage der seelischen <strong>und</strong> geistigen Entwicklung!<br />
Der Gleichgewichtssinn ist zugleich auch der moralische Sinn. Er ermöglicht die<br />
Balance der inneren feurigen Freiheit. Der aufrechte Gang des aufrichtigen Menschen<br />
zeigt die Wirkung des Ich.<br />
Der Bewegungssinn zeigt das seelisch-luftig Bewegende. Im Tanz, im Theater, in der<br />
Pantomime enthüllen sich seelische Gesten.<br />
Der Lebenssinn taucht ein in das wässrige Leben der eigenen Lebensprozesse, aber<br />
auch in die Energetik der Natur.<br />
Der Tastsinn als Begrenzungssinn nimmt bezug auf die physische Welt, verbindet<br />
den Menschen mit allem Irdischen.<br />
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„<strong>Hugo</strong> <strong>Kükelhaus</strong> <strong>und</strong> <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong>“ – von Ueli Seiler-<strong>Hugo</strong>va<br />
Die BASAL-SINNE<br />
<strong>und</strong> ihre Wirkung auf die Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit der Seele<br />
Die prophylaktische Tätigkeit dieser Sinne führt zu einer ges<strong>und</strong>en Entwicklung. Die<br />
Basal-Sinne bilden auch die Gr<strong>und</strong>lage eines Therapie-Konzeptes. Bei Mängel<br />
dieser Sinnestätigkeit kommt es zu seelischen Krankheiten.<br />
GLEICHGEWICHTSSINN<br />
Ges<strong>und</strong>heit Aufrichtigkeit, aufrechter Gang, Urteilsvermögen<br />
Krankheit moralische Schwächung, Lügen, Stehlen, Kriminalität<br />
� mangelndes Selbstwertgefühl<br />
BEWEGUNGSSINN<br />
Ges<strong>und</strong>heit Freiheitsgefühl<br />
Krankheit trauriger grüblerischer Typus<br />
� Ausgeschlossenheitsgefühl<br />
LEBENSSINN<br />
Ges<strong>und</strong>heit Behaglichkeitsgefühl, Lebenssicherheit, gutes Körpergefühl<br />
Krankheit nervöser, aggressiver Typus<br />
� Unerwünschtheitsgefühl<br />
TASTSINN<br />
Ges<strong>und</strong>heit Form- <strong>und</strong> Hüllengefühl, Gestalterfassung<br />
Krankheit ängstlicher unbeholfener Typus<br />
� Verlassenheitsgefühl<br />
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„<strong>Hugo</strong> <strong>Kükelhaus</strong> <strong>und</strong> <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong>“ – von Ueli Seiler-<strong>Hugo</strong>va<br />
Das Schaubild zeigt das <strong>Steiner</strong>-Konzept der zwölf Sinne im Zusammenhang mit<br />
dem Erkenntnisvorgang. Es braucht von Makrokosmos Welt eine Wahrnehmung, die<br />
dann mit dem Begriff des seelischen Mikrokosmos verb<strong>und</strong>en wird. Die<br />
Sinneswahrnehmung ergibt im Seelischen den dazugehörigen Sinn. Der<br />
Erkenntnisprozess führt von den Sinnen zum Sinn.<br />
Der makrokosmische Umkreis ist zugleich auch der Tierkreis. Beim Tastsinn<br />
angefangen, werden die Sinne lemniskalisch den Tierkreiszeichen zugeordnet. Sie<br />
durchlaufen von der Waage (Tastsinn) bis zu den Fischen (Geschmacksinn) <strong>und</strong><br />
springen dann in das polare Gegenüber der Jungfrau (Sehsinn), dort bewegen sie<br />
sich wiederum hinauf zum Widder (Ich-Sinn).<br />
Aus diesem Schaubild ergibt sich, dass immer zwei Sinne einander polar gegenüber<br />
liegen. Sie ergänzen sich <strong>und</strong> helfen oft auch therapeutisch. So können sprachliche<br />
Wahrnehmungsmängel durch die Bewegung, Ich-Wahrnehmung durch den Tastsinn,<br />
der Gedankensinn durch die Aktivierung des Lebenssinnes gefördert werden.<br />
Die Analogie zu den Tierkreiszeichen kann auch Sinn machen: der Wärmesinn wird<br />
dem Löwen, der Ich-Sinn dem ichhaften Widder, der Sprachsinn dem<br />
kommunikativen Zwillingen <strong>und</strong> der Sehsinn der sachlichen Jungfrau zugeordnet.<br />
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„<strong>Hugo</strong> <strong>Kükelhaus</strong> <strong>und</strong> <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong>“ – von Ueli Seiler-<strong>Hugo</strong>va<br />
Literaturverzeichnis<br />
<strong>Kükelhaus</strong> <strong>Hugo</strong>, Organismus <strong>und</strong> Technik, Walter Verlag<br />
<strong>Kükelhaus</strong> <strong>Hugo</strong>, Du kannst an keiner Stelle mit eins beginnen, Arche Verlag?<br />
<strong>Kükelhaus</strong> <strong>Hugo</strong>, Fassen Füllen Bilden, Gaia Verlag?<br />
Dederich Markus, In den Ordnungen des Leibes. Zur Pädagogik <strong>und</strong> Anthropologie von<br />
<strong>Hugo</strong> <strong>Kükelhaus</strong>, Münster 1996<br />
<strong>Steiner</strong> <strong>Rudolf</strong>, Zur Sinnlehre, Verlag Freies Geistesleben<br />
Soesman Albert, Die zwölf Sinne, Verlag Freies Geistesleben<br />
König Karl, Der Kreis der zwölf Sinne <strong>und</strong> die sieben Lebensprozesse, Verlag Freies<br />
Geistesleben<br />
Berendt Joachim-Ernst, Nada Brahma – die Welt ist Klang, ro ro ro<br />
Seiler-<strong>Hugo</strong>va Ueli, Farben sehen erleben verstehen, 2. Auflage, AT Verlag<br />
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